Gießen steht am 29. und 30. November vor einem Wochenende, wie es die Stadt noch nie erlebt hat. Die AfD will in den Hessenhallen ihre neue Jugendorganisation „Generation Deutschland“ gründen. Gleichzeitig mobilisieren bundesweit zivilgesellschaftliche Bündnisse zu Protesten in einer Größenordnung, wie es sie in Mittelhessen bisher nicht gab. Behörden, Handel, Schulen, Kliniken und Veranstalter bereiten sich auf eine Lage vor, die das öffentliche Leben in Gießen massiv beeinträchtigen kann. Für viele Beteiligte ist klar: Es wird kein gewöhnliches Wochenende und möglicherweise eine der komplexesten Einsatzlagen bei Demonstrationen der vergangenen Jahrzehnte in Deutschland.
Widersetzen mobilisiert bundesweit
Das Bündnis Widersetzen plant Aktionen des zivilen Ungehorsams rund um die Hessenhallen. Eine Sprecherin beschrieb uns das Bündnis als einen breit zusammengesetzten Zusammenschluss aus Gewerkschaften, kirchlichen Gruppen, antifaschistischen Initiativen, Studierendengruppen und vielen weiteren Organisationen. Mehr als achtzig Ortsgruppen seien aktiv. Die Finanzierung erfolge vollständig über Spenden.
Widersetzen betont, gewaltfrei zu agieren. Als Beispiel wird häufig auf die Proteste in Riesa verwiesen, wo viele Aktionen friedlich verliefen, es jedoch dennoch zu intensiven Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Auch in Gießen soll der Protest friedlich bleiben, garantieren lässt sich das jedoch nicht.
Man erwartet über vierzigtausend Menschen in der Stadt
Nach Angaben der Stadt Giessen belaufen sich die angemeldeten Demonstrationen mittlerweile auf über 12.000 Personen. Dies sind ausschließlich die offiziell angemeldeten Teilnehmerzahlen. Darüber hinaus können weitere Anreisen nicht ausgeschlossen werden. Insgesamt rechnet man mit über 40.000 Menschen die in die Stadt kommen werden.
Giessen Aktuell liegen interne Informationen vor, die nicht offiziell bestätigt sind. Demnach soll das hierfür angeforderte Polizeiaufgebot die umfangreichste Kräfteanforderung darstellen, die es in Deutschland jemals gegeben hat. Die Quelle gilt als valide, Behörden äußern sich hierzu öffentlich jedoch nicht. Es kursieren Zahlen von über 12.000 Polizistinnen und Polizisten die aus ganz Deutschland nach Gießen kommen werden. Dazu gehört auch ein umfangreiches technisches Aufgebot.
Sicherheitslage: Tagesschau berichtet über anonyme Gewaltaufrufe
Die Tagesschau berichtete jüngst über anonym verbreitete Gewaltaufrufe im Internet. Diese richten sich ausdrücklich gegen das Demonstrationsrecht und gegen Einsatzkräfte. Hessische Sicherheitsbehörden stufen diese Aufrufe als ernstzunehmend ein und warnen, dass gewaltorientierte Kleingruppen versuchen könnten, sich friedlichen Demonstrationen anzuschließen, um gezielt Eskalationen herbeizuführen.
Die Tagesschau stellt gleichzeitig klar, dass diese Gewaltaufrufe nicht von den zivilgesellschaftlichen Bündnissen stammen, die in Gießen protestieren wollen. Widersetzen und andere Gruppen rufen weiterhin ausdrücklich zu friedlichem Verhalten auf.
Stadt bereitet mehrere Szenarien vor
Bürgermeister und Sicherheitsdezernent Alexander Wright erklärt gegenüber Giessen Aktuell, dass die Stadt eng mit Polizei, Feuerwehr, Rettungsdiensten, Stadtwerken und Verkehrsbehörden zusammenarbeite. Es gibt sehr regelmäßige Treffen in einem Krisenstab. Wright sagt: „Letztlich versuchen wir an diesem unnormalsten Tag, es so normal wie möglich zu machen.“ Die Stadt bereitet mehrere Szenarien vor – von ruhigen Abläufen bis hin zu Situationen, in denen es zu massiven Einschränkungen kommen könnte.
UKGM bittet vorsorglich um Blutspenden
Auch das Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM) bereitet sich auf mögliche Einsatzlagen am Demonstrationswochenende vor. In einer E-Mail informierte das Klinikum kürzlich seine registrierten Blutspenderinnen und Blutspender darüber, dass Spenden in den Tagen vor der AfD-Veranstaltung besonders hilfreich seien. Dabei betont das UKGM ausdrücklich, dass es sich um eine rein vorsorgliche Maßnahme handelt, wie sie bei größeren Ereignissen oder potenziell belasteten Wochenenden üblich ist. Mit dem Aufruf wolle man sicherstellen, dass im Fall einer erhöhten Nachfrage ausreichend Blutkonserven zur Verfügung stehen.
Handel vor ungewisser Lage
Bei einem internen Austausch im Rathaus wurde deutlich, dass der Handel sich auf drei mögliche Szenarien vorbereiten muss: normale Öffnung, verhaltene Öffnung oder vollständige Schließung, falls es die Lage erfordert. Eine klare Empfehlung wurde nicht ausgesprochen. Ein Teilnehmer formulierte die Stimmung mit den Worten: „Wir werden bis zuletzt den Atem anhalten müssen.“
Auch große Filialen prüfen konkrete Schutzmaßnahmen. Kim Hügle, Geschäftsführer der Galeria-Filiale am Seltersweg, sagte uns gestern, dass man im Unternehmen sogar erwogen habe, die großen Schaufensterfronten vorsorglich zu verbarrikadieren. Die Kosten hätten jedoch bei rund siebzigtausend Euro gelegen, was nicht darstellbar gewesen sei. Stattdessen wolle man je nach Lageentwicklung kurzfristig entscheiden, ob und wie lange geöffnet bleibt. Die Entscheidung könne unter Umständen von Stunde zu Stunde wechseln. Schaustellerinnen und Schaustellern des Weihnachtsmarktes steht es zudem frei zu öffnen, oder nicht.
Nach aktuellem Stand sollen Innenstadt, Seltersweg und Weihnachtsmarkt möglichst nicht Teil der Demonstrationsrouten werden. Gleichzeitig rechnen Behörden damit, dass die Zufahrten aus westlicher Richtung vollständig gesperrt werden. Auch andere Zufahrtswege könnten stark eingeschränkt werden.
Black Friday unter schwierigen Bedingungen
Die Stadt weist darauf hin, dass verlängerte Öffnungszeiten zum Black Friday unter diesen Umständen kaum sinnvoll erscheinen. Viele Händler halten spätere Öffnungen für unrealistisch, da Mitarbeitende und Kundschaft die Innenstadt möglicherweise nicht erreichen.
DGB-Bühne am Rathaus: Fest der Demokratie
Auf dem Rathausplatz soll parallel ein Fest der Demokratie stattfinden. Damit sollen friedliche Ausdrucksformen unterstützt und eine klare Alternative zu potenziellen Konfliktsituationen geboten werden. Mehr Infos zum Programm und dem Demo-Routen auf der DGB Mittelhessen Website. https://mittelhessen.dgb.de/++co++a410ea7c-b005-11f0-8d77-d76dcfe55307
Schulen schließen früher
Am Freitag, dem 28. November, sollen die Schulen der Stadt bereits um 15 Uhr schließen. Hintergrund ist die erwartete Ankunft zahlreicher Polizeihundertschaften, die Vorbereitungen für Sperrungen und größere Einsatzlagen treffen müssen.
UKGM bittet vorsorglich um Blutspenden
Das Universitätsklinikum Gießen-Marburg (UKGM) hat Blutspenderinnen und Blutspender per E-Mail gebeten, in den Tagen vor dem Wochenende zu spenden. Dabei handele es sich, so das UKGM, um eine reine Vorsichtsmaßnahme, wie sie bei Großlagen üblich sei. Ziel sei es, mögliche Engpässe frühzeitig zu vermeiden. Der Hinweis zeigt dennoch, dass auch medizinische Einrichtungen die Lage sehr ernst nehmen.
Shuttles und Verkehr
Die Stadt plant ein Shuttle-System von Außenparkplätzen in die Innenstadt. Ob dieses System unter den erwarteten Belastungen praktikabel sein wird, bleibt unklar. Details sollen erst kurz vor dem Wochenende bekanntgegeben werden. Es ist davon auszugehen dass der ÖPNV, besonders der innerstädtische Busverkehr, stark eingeschränkt sein wird.
Vorbereitung der Demonstrierenden: Packliste mit sensiblen Hinweisen
Widersetzen hat eine Packliste für Demonstrierende veröffentlicht. Neben Grundausstattung wie wetterfester Kleidung, Proviant und Powerbanks finden sich darin Hinweise, die auf die erwartete Lage hinweisen. Das Bündnis rät dazu, keine Smartphones mit privaten Daten mitzunehmen und stattdessen alte, bereinigte Geräte zu verwenden. Begründet wird dies mit der Gefahr von Beschlagnahmungen oder Verlusten. Diese Empfehlung wird von einigen Beobachtern als Hinweis gewertet, dass man mit einer angespannten und unübersichtlichen Lage rechnet.
Hinweise zum Umgang mit Reizgas sowie zur Mitnahme unkritischer Gegenstände ergänzen die Liste. Widersetzen betont weiterhin, ausschließlich friedlichen Protest zu planen.
Politischer Hintergrund
Die AfD plant in Gießen die Gründung einer neuen Jugendorganisation, nachdem die Junge Alternative im Frühjahr aufgelöst wurde. Der Verfassungsschutz stuft die AfD seit Mai 2025 als Partei mit gesichert rechtsextremistischen Bestrebungen ein.
Ausblick
Viele Entscheidungen werden erst kurz vor dem Wochenende getroffen. Schon jetzt aber steht fest, dass Gießen vor einer Herausforderung steht, wie sie die Stadt in ihrer Geschichte wahrscheinlich noch nicht erlebt hat. Polizei, Stadtverwaltung, Handel und Bevölkerung bereiten sich auf ein Wochenende vor, das bundesweit Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. Ob die Lage friedlich bleibt oder es zu Zwischenfällen kommt, lässt sich nicht verlässlich vorhersagen.
Die Stadt Gießen hat zudem eine Info-Seite zu den Auswirkungen der Demonstrationen am 29./30. November in Gießen eingerichtet die regelmäßig aktualisiert wird. Diese ist über https://www.giessen.de/index.php?object=tx,2874.5&ModID=7&FID=2874.74601.1 erreichbar

